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AnnenMayKantereit präsentieren mit „12“ ein Album aus dem Schockzustand

Ganz überraschend hat die Band AnnenMayKantereit heute Nacht ihr neues Album „12“ veröffentlicht. Ein Album, das in Zeiten des Schocks entstanden ist, in der ersten Lockdown-Phase im Frühjahr 2020. 16 Songs, aber gerade mal 37 Minuten führen AnnenMayKantereit durch ihr Gefühlswelt in einer Zeit, in der plötzlich alles anders war und die gerade für KünstlerInnen eine Zeit der Veränderung und der Unsicherheit war.

Ein unscharfes Bandfoto mit einer handgeschriebenen „12“ darauf auf den Social Media Kanälen war der einzige Hinweis, den AnnenMayKantereit auf ihr drittes Album gaben. Angekündigt gestern um 23:30 Uhr via Livestream auf YouTube, veröffentlicht um 00:00 Uhr auf allen digitalen Plattformen. Das ging ganz schön schnell. Genauso schnell wie sich im Frühjahr 2020 für viele Menschen der komplette Alltag veränderte.

Die ersten Tage des Schockzustands

Eine düstere Zeit auch für AnnenMayKantereit, wenn man von der Stimmungslage des neuen Albums auf ihre eigene schließen darf. „So wie es war, so wird es nie wieder sein“, singt Henning May im zweiten Song. „12“ ist kein gewöhnliches Album, es fühlt sich an wie eine Reise durch die Gefühle der Band, die sich im Laufe der Zeit verändern und genauso chronologisch abgebildet werden.

In den ersten vier Songs des Albums geht es um die plötzliche Veränderung, um die ersten Tage des Schockzustands. Eine Zeit, in der die gesellschaftlichen und persönlichen Probleme der vergangenen Tage überschattet werden von den Nachrichten rund um das Virus. „Wenn in Moria die Zelte brennen hört das niemand mehr“, singt Henning May in „Gegenwart“.  Es ist auch die Ungewissheit der Zukunft, die ihn beschäftigt und das Gefühl, dass die Zeit und die Tage in den eigenen vier Wänden sich dehnen. „Ich kann nicht in die Zukunft schauen, nur in die Vergangenheit“, heißt es im Einstieg des Songs „Zukunft“.

Das Gefühl von Gewohnheit im Trance-Zustand

Auf die Zeit der Veränderung und Ungewissheit folgt Gewohnheit. In „Spätsommerregen“ wird die Isolation zum Alltag. „Es ist ok“, singt May über den Zustand, an den man sich langsam zu gewöhnen scheint. Spaziergänge in der Natur sind nun Spaziergänge im Innenhof, Chats mit FreundInnen ersetzen persönliche Treffen. Hennings Stimme bleibt monoton wie der Alltag, aber die Melodien werden langsam leichtfüßiger. Es ist die Einleitung in ein weiteres Kapitel des Albums, das sich auf einmal anfühlt wie ein Trance-Zustand. „Warte auf mich [Padaschdi]“ ist ein Traum von Möwen ohne Meer, in „Paloma“ widmet Henning May sich der spanischen Sprache und singt von Raben und Tauben. Die Freiheit der Vögel als Sehnsuchtszustand? Vielleicht. „Ganz egal“ erzählt vom Vermissen und darum, jemanden bei sich zu tragen, der eigentlich abwesend ist.

Mit „Aufgeregt“ kommt die Auflösung des Trance-Zustands, in der die Band vom ersten Wiedersehen nach dem Lockdown erzählt. Von der Aufgregung, die viele Menschen verspührt haben, wenn sie nach so langer Zeit der Einsamkeit auf einmal wieder auf andere Menschen treffen. Es breitet sich eine Unbeschwertheit und zwischen den düsteren Songs fast schon euphorische Stimmung aus, die aber schnell wieder verschwindet.

Düstere Zukunft oder Happy End?

„Interlude“ ist der Übergang in die letzte Phase des Albums, in der die Dunkelheit zurückkommt. In „So laut so leer“ geht es um oft inhaltslose und nicht zufriedenstellende Parolen der Politik. Belastende Gefühle besingt May in „Das Gefühl“, in dem endgültig wieder das Düstere dominiert. Es geht um gewöhnliche Gefühle wie Selbstzweifel und Wut, aber auch um Gefühle, die man lange verdrängt hat und fast schon traumatisch zu sein scheinen. Mit „Die letzte Ballade“ kommt das dritte Album der Band fast zum Ende und stellt eine zentrale Frage auf: Worüber singt man, wenn viele Weltgeschehnisse so groß sind, dass sie alles überschatten und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wer schaut noch auf die Musiklandschaft, wenn doch so viel anderes im Fokus der Gesellschaft steht? Eins steht fest: AnnenMayKantereit wollen weiter machen mit dem, was sie lieben. Trotz allem zumindest noch gute Nachrichten zum Ende der Geschichte.

„12“ ist ein ungewöhnliches Album, das in ungewöhnlichen Zeiten entstanden ist. AnnenMayKantereit schreiben keine klischeehaften Corona-Songs, sondern haben mit „12“ ein naturgetreues Abbild dessen aufgenommen, was sie gefühlt und durchgemacht haben – ohne große Ausschmückungen, ohne großes Drama. Nicht ohne Grund hat die Band sich oft für unperfekte Handyaufnahmen entschieden und mit eingebaut. Gerade durch diese Unperfektheit fühlt sich das, was sie da gezaubert haben, unglaublich echt und nahbar an.

Foto: Martin Lamberty

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